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"Der Wandel des Spreeparks vom Substantiv zum Verb"

Ein Essay von Helene Romakin zum Künstler*innen-Gespräch mit Lara Almarcegui und Stefan Shankland

Lara Almarcegui und Stefan Shankland im Gespräch mit Helene Romakin im Juni 2024

Helene Romakin hat im Rahmen der Ausstellung Eine Frage des Materials mit den Künstler*innen Lara Almarcegui und Stefan Shankland über den künstlerischen Umgang mit Materialien und Stoffen der natürlichen und gebauten Umwelt gesprochen. Der folgende Text fasst das Gespräch zusammen und gibt einen Einblick in die Arbeitspraxis und Themen der Künstler*innen. 

Der Wandel des Spreeparks vom Substantiv zum Verb: Gegen die latente kollektive Nichtbeachtung von Materialien

Lara Almarcegui und Stefan Shankland im Spreepark Art Space 

 

Von Helene Romakin

In der Ausstellung „Eine Frage des Materials“, kuratiert von Katja Aßmann, präsentieren die Künstler*innen Lara Almarcegui und Stefan Shankland ihre Arbeiten neben einem Werk des Pioniers der Land Art Robert Smithson, Spiral Jetty (1970), im Eierhäuschen. Das Gebäude aus dem Jahr 1892 war mit seinem Restaurant und der Kegelbahn sowie später der Verbindung zum einzigen ständigen Vergnügungspark der DDR sehr beliebt. Nach einer umfassenden denkmalgerechten Restaurierung wurde das Eierhäuschen im März 2024 wiedereröffnet und beherbergt nun Ausstellungs- und Residenzräume sowie einen Biergarten und ein Restaurant. 

Almarceguis und Shanklands künstlerische Praktiken waren zur Eröffnung der Ausstellung Teil eines Gesamterlebnisses im öffentlichen Raum, das über die Zusammenarbeit mit dem Architekturkollektiv raumlaborberlin und der Designerin Anna Saint Pierre hinaus ein umfangreiches Programm mit Picknick Interventionen, Designworkshops, geführten Touren und Künstler*innengesprächen bot. Der Titel „Der Wandel des Spreeparks vom Substantiv zum Verb“ leitet sich aus der Beobachtung des Kunsthistorikers W.J.T. Mitchell ab, der mit der Beschreibung  "die Landschaft vom Substantiv zum Verb zu wandeln" [Übers. d. Verf.]1 darauf hinwies, dass sein Interesse an Landschaften darin liegt, was sie tun, anstatt wie sie definiert sind.2 Ich verstehe Orte wie den Spreepark als genau solche Verben, also Landschaften, die sich mit komplexen Themen auseinandersetzen und bestimmte transformative Gedanken und Konzepte in einem tiefgreifenden und intensiven Austausch mit Fachleuten aus dem Kulturbereich aktivieren.

Nach über 20 Jahren des Verfalls ist der Spreepark wieder lebendig. Noch im Prozess befindlich, wird das gesamte ehemalige Vergnügungsparkgelände 2026 als Park wiedereröffnet. Im Spreepark Art Space in Berlin zu sein, bedeutet, „in the middle of things“ zu sein; es ist ein Versuch, „sich in spezifische Situationen zu verstricken“, wie die Anthropologin Anna L. Tsing sagen würde.3

Ich sehe den Spreepark Art Space als einen Ort mitten im Geschehen, weil er so viele dringende zeitgenössische Themen anspricht und eine Diskursplattform schafft, um eine Vielzahl von inhärent interdisziplinären Praktiken und Forschungen zu untersuchen, die historische, geologische, ökologische, anthropologische, soziale und politische Fragen behandeln. Dieser neu reaktivierte öffentliche Raum zeichnet sich durch seinen Ansatz aus, Künstler*innen und Architekt*innen von Anfang an in die Entwicklung des Geländes einzubeziehen und dauerhafte oder vergängliche Interventionen zu platzieren, mit wiederverwendeten Materialien zu arbeiten und die Bauentwicklung im städtischen Umfeld grundlegend zu hinterfragen. Künstler*innen wie Lara Almarcegui und Stefan Shankland in ein solches Vorhaben einzubeziehen, bedeutet auch, sich tiefgehend mit dem Ort und seiner Ortsspezifität auf räumlichen und zeitlichen Ebenen auseinanderzusetzen, die normalerweise unbeachtet bleiben.

Zwei Hauptfragen stellen sich bei der Auseinandersetzung mit der Ausstellung „Eine Frage des Materials“: Warum gibt es ein zunehmendes Interesse an der Bau- und Abrissindustrie und ihren Materialien, die eng mit der Landnutzung wie dem Bergbau verbunden sind? Und warum sollten wir als Bürger*innen und Individuen ihnen mehr Aufmerksamkeit schenken? Bau- und Abrissmaterialien repräsentieren explizit die Beweise für menschliche Eingriffe in die Natur, was zu einer allgemeinen Wahrnehmung von sowohl Dringlichkeit als auch Unfassbarkeit geführt hat. Im Jahr 2000 führten der Atmosphärenchemiker Paul J. Crutzen und der Ökologe Eugene F. Stoermer den Begriff Anthropozän ein, um eine neue Epoche als Ergebnis des enormen menschlichen Einflusses auf die ökologischen Systeme der Erde zu verkünden.4 

Das Anthropozän beschreibt eine neue geologische Zeitperiode, in der menschliche Aktivitäten als gleichwertig mit, wenn nicht sogar übergeordnet gegenüber den großen natürlichen Kräften angesehen werden, die die Transformation der geologischen und ökologischen Umgebungen der Erde beeinflussen. Um die umfangreichen Umweltimplikationen vollständig zu erfassen, hat die neue Ära viele Namen und Perspektiven erhalten, die über das ursprüngliche Konzept des Anthropozäns hinausgehen. Unter diesen vielen Begriffen, die versucht haben, die gegenwärtige Epoche zu erfassen, hebt das Kapitalozän explizit die ausbeuterische Natur des globalen Kapitalismus hervor, der für die Umweltzerstörung verantwortlich ist. Wie T. J. Demos es formuliert, bezieht sich das Kapitalozän auf die „geologische Epoche, die durch die Unternehmensglobalisierung geschaffen wurde.“5 Im Kapitalozän hat die Verfolgung von Profit Vorrang vor ökologischer Nachhaltigkeit, was zur Verbreitung ausbeuterischen und wenig nachhaltigen Praktiken und zu Umweltungerechtigkeiten wie Arbeits- und Artenausbeutung führt. Diese Praktiken gelten als die treibenden Kräfte, die systematisch und strukturell in dieser Ära angewendet werden. Durch die Linse des Kapitalozäns zu schauen, bedeutet, eine tiefgehende Analyse komplexer wirtschaftlicher Prozesse vorzunehmen, um die verantwortlichen Industrien und ihre verflochtenen ausbeuterischen Strukturen sowie politischen Lobbyismus zu identifizieren.6

Im Kontext ist die Bauindustrie einer der Hauptverursacher von CO2-Emissionen und fortdauernder Landnutzung. Ihre verheerenden ökologischen, geologischen, sozialwirtschaftlichen und politischen Auswirkungen sind zahllos. Die Herausgeber*innen des Buches The Routledge Companion to Contemporary Art, Visual Culture, and Climate Change, Emily E. Scott, T.J. Demos und Subhankar Banerjee, beschreiben dies wie folgt:

"Der Extraktivismus bezeichnet eine politische Ökonomie, die auf der Entnahme von Werten ohne entsprechende Ablagerung beruht: Ressourcen werden der Erde entzogen, Profite aus der Arbeit und kommodifizierbare Daten aus Pflanzen, Körpern und Informationssystemen. An ihren Platz zurückgekehrt sind Abfall, Gift, Krankheit, Erschöpfung und Tod." [Übers. d. Verf.] 7


In diesem Rahmen könnten Almarceguis und Shanklands künstlerische Praktiken, die sich mit Bau- und Abrissmaterialien wie Schutt, Kies, Sand, Kalkstein und Abfallmineralien befassen, neue Strategien und Narrative für die Auseinandersetzung mit den verheerenden Folgen solcher Ausbeutung bieten. In ihren Projekten übernehmen Almarcegui und Shankland möglicherweise verschiedene Rollen wie Stadtplaner*in, Ökolog*in, Aktivist*in, Erzähler*in, Ingenieur*in, Materialspezialist*in und Aktivierer*in von Orten. Sie hinterfragen nicht nur die etablierten Routinen, sondern überprüfen auch das grundlegende Konzept der Bauindustrie. Sie liefern ein Beispiel dafür, wie Orte starke Reaktionen ermöglichen können, ohne auf Ideen der Repräsentation angewiesen zu sein.

In ihren Projekten geht Lara Almarcegui auf geologische Materie in einer akuten unaufgeregten Weise ein, vermeidet die Rhetorik des Katastrophismus und zeigt dabei plausibel die Dringlichkeit auf, die Konsequenzen langfristiger Landnutzung anzuerkennen. In diesem Kontext untersucht Almarcegui die Ursprünge von Baumaterialien. Informiert durch Gespräche und die Zusammenarbeit aus vielen Disziplinen wie Architektur, Stadtplanung, Ingenieurwesen, Geologie und Ökologie, verfolgt die Künstlerin in ihrer Suche nach Orten, an denen grundlegende Materialien wie Kies, Eisen und Klinker für den Bau von Gebäuden und ganzen Städten abgebaut werden, die gebauten Geschichten, die uns jeden Tag umgeben.

Die Ausstellung im Eierhäuschen zeigt Lara Almarceguis Werke Buried House, Dallas (2013) und Construction Materials, City of São Paulo (2006). Aus ihrem Interesse an Architektur und Bauwesen heraus begann die Künstlerin zunächst damit, die Materialien von Gebäuden zu berechnen. Sie nahm dabei eigenständig ein Gebäude unter die Lupe, indem sie das Volumen berechnete und die Materialien definierte. Wo es nötig war, wie bei den Fundamenten eines Gebäudes, zog Almarcegui eine*n Ingenieur*in zu Rate. Innerhalb weniger Jahre weitete sich der Umfang ihrer Projekte von einem Gebäude auf eine Stadt, eine Insel und schließlich sogar auf die gesamte Erde aus. Ein Einblick in Almarceguis Forschungsprozess zu den verheerenden Maßstäben der Extraktion wird im Gespräch „Earth Calculation“ gegeben, das 2019 im Ausstellungskatalog der Künstlerin Béton veröffentlicht wurde. In diesem Gespräch, das zwischen Almarcegui und Winfried Dallmann, einem außerordentlichen Professor am Department of Geosciences der Arctic University of Norway in Tromsø, geführt wurde, wird dieser Prozess detailliert beleuchtet.

Die beiden arbeiteten gemeinsam an dem Projekt Rocks of Spitsbergen, bei dem Almarcegui die Masse der geologischen Komponenten berechnete, aus denen die Insel Spitzbergen besteht. “Was ich versuche, ist, eine Vision der möglichen Zerstörung der Insel durch die Erforschung ihrer geologischen Ursprünge und ihrer zukünftigen Ausbeutung zu bieten,” [Übers. d. Verf.] kommentierte sie ihr Projekt Rocks of Spitsbergen im Jahr 2014.8 Mit Earth Calculation stellte Almarcegui ihre Idee für ein kolossales neues Projekt vor, das „darin besteht, die gesamte Menge der Gesteinsmaterialien der Erde zu berechnen.“9

Im Jahr 2013 präsentierte Almarcegui ein neues Werk, Buried House, Dallas, im Nasher Sculpture Center in Dallas. Für ihre künstlerische Intervention wählte Almarcegui das Gebiet Oak Cliff Gardens, eines der ältesten Viertel von Dallas, das bedeutende Übergänge durchlaufen hat – von einer landwirtschaftlichen Siedlung über eine wohlhabende Stadt bis hin zu einem schrumpfenden und vernachlässigten Bereich mit verfallenen Häusern. Almarcegui arbeitete hierfür mit der Dallas Area Habitat for Humanity zusammen, einer Organisation, die sich mit Renovierung und Bau in Oak Cliff beschäftigt, mit dem Ziel, Gemeinschaften zu stärken und zu unterstützen.10 Gemeinsam wählten sie ein Haus aus, das für den Abriss vorgesehen war, rissen es ab und begruben die Überreste auf demselben Grundstück in einem zuvor ausgehobenen Loch. Mit diesem Werk machte Almarcegui nicht nur auf einen Ort mit einer schwierigen Geschichte aufmerksam, sondern hielt diesen im Übergang, in einem entscheidenden Moment des Potentials, fest. Mit dem neu gewonnenen Bewusstsein für Oak Cliff hoffte Almarcegui, Diskussionen zu inspirieren: “Wenn der Raum leer ist, ist dort alles möglich. Es sind wirklich Orte zum Träumen, zum Denken, es sind weiße Flecken, die Orte der Freiheit sind. Sie sind wirklich notwendig,” [Übers. d. Verf.] kommentierte die Künstlerin.11

Da Lara Almarceguis Arbeit an den Grenzen des städtischen Umfelds operiert, zwischen Regeneration, Verfall und ihrer Perspektive auf scheinbar ruinöse, unwürdige Räume, die zwischen Ordnung und Unordnung schwanken, wird Almarceguis Praxis oft in der Tradition des Land Art-Künstlers Robert Smithson verortet. Mit Buried House stellt Almarcegui eine weitere Verbindung zu Robert Smithson her, da das Werk eine kunsthistorische Referenz zu Smithsons Partially Buried Woodshed (1970) aufgreift. Für dieses Werk fand Smithson einen kleinen Schuppen auf einem von der Kent State University in Ohio bewirtschafteten Bauernhof und beauftragte jemanden, mit einem Bulldozer Erde darüber zu schieben, bis das Dach einstürzte. Das ursprüngliche Innere, bestehend aus „gelagertem Holz, Erde und Kies“, sollte im Inneren verbleiben.12 Laut dem Kunsthistoriker Robert Hobbs entwickelte Smithson als Reaktion auf die Umweltbedingungen des 20. Jahrhunderts eine neue Strategie, um Landschaften zu betrachten:

“ Er versuchte, die verwüstete Landschaft in seine Kunst einzubringen. Nicht mehr auf der Suche nach einer ursprünglichen Pracht, nach einer verblüffend schönen Landschaft (...) tauchte Smithson in die nicht mehr nutzbaren Randgebiete der industriellen Welt ein – verlassene Steinbrüche, Absetzbecken, Schlammhalden, brachliegende Teertümpel und stillgelegte Bohrinseln.” [Übers. d. Verf.]13


Almarcegui teilt eindeutig ein Interesse an „der Geschichte des Ortes, insbesondere seiner Geologie, sowie an den menschlichen Eingriffen über einen Zeitraum hinweg“, wie die Kunsthistorikerin Marga Bijvoet Smithsons Werk kommentiert.14 Ebenso betont auch Stefan Shankland, dass die Geologie immer ein starker Bezugspunkt in seiner Praxis war.

Ebenso betont auch Stefan Shankland, dass die Geologie immer ein starker Bezugspunkt in seiner Praxis war. In der Ausstellung präsentiert Stefan Shankland eine Reihe von Arbeiten, die er direkt als Reaktion auf den Ort nach einer tiefgreifenden Forschungsphase zu Mineralien, Abfällen und bürokratischen Vorschriften in städtischen Räumen, geschaffen hat. In seiner künstlerischen Praxis erforscht Shankland die Schaffung und den Verfall von Wert innerhalb der Bau- und Abrissindustrie. Wann wird etwas als wertvoll betrachtet und wann einfach als Abfall? Aus welchen Bestandteilen besteht der Ort, die wir nicht sehen können, die jedoch von Interesse sein könnten? 

Der Künstler untersucht Dinge, die systematisch außerhalb der Schwelle der Sichtbarkeit und unseres Bewusstseins liegen. Daher ist die Definition kollektiver blinder Flecken durch den Hinweis auf Mineralabfälle sicherlich eine Strategie zur Schaffung von Bewusstsein. Ursprünglich, um Zugang zu Brachflächen oder verlassenen Orten zu erhalten, war Shankland darauf bedacht, nahezu alles zu fotografieren, was ihm vor die Linse kam. Als zweiten Schritt erstellte er in seinem Atelier Inventare der Arten von Objekten und Materialien, die er an diesen Orten fotografiert hatte. Durch diese detaillierten Analysen der Orte beobachtete Shankland „Räume, Zeiten und Materialien, um die sich niemand kümmern wollte“, und so wurden Materialinventare unerwünschter Entitäten zentral für seine Arbeit. 

Zum Spreepark lagen bereits Pläne zur Umgestaltung vor, als Shankland sich in einer Forschungsresidenz mit dem Ort zu beschäftigen begann. Hierzu wurden systematisch Kartierungen und Übersichten, die historische Ereignisse, Baumarten und die Vielfalt der Tiere dokumentieren, erstellt. Dabei entdeckte Shankland eine fehlende Dokumentation: Die mineralische Zusammensetzung des Parks war in den obligatorischen Beobachtungen zum Bestand und als Ausgangspunkt für die Entwicklung nicht enthalten. Die geologischen Materialien im Spreepark bestehen aus natürlich vorkommenden Mineralien, die in der Architektur, weiteren Bauwerken sowie allen verschiedenen Hybriden dieser beiden vorhanden sind. Viele dieser Mineralien wurden zunächst als nicht erhaltenswert klassifiziert und wären daher als Abfall im Rahmen der Parkentwicklung entsorgt worden.

Durch seine Arbeit offenbart Shankland, dass Abfall eine soziale, normative und kulturelle Konstruktion ist, wie er in unserem Gespräch im Spreepark Art Space im Juni 2024 erklärte:

“Im Spreepark könnten wir potenziell mineralische Abfälle, die auf der Baustelle des Parks entstehen, als Ressource für andere Bauprojekte verwenden. Normativ gesehen ist dies jedoch nicht erlaubt, da das Abbruchmaterial als Abfall klassifiziert ist. Zudem können wir es aufgrund des geschützten Status des Gebiets als natürliche Umgebung nicht einmal offen lagern. Solange es als Architektur stand, war es akzeptabel, selbst als Ruine. Sobald es jedoch abgebaut wird, wird es zu Abfall und kann hier nicht verbleiben. Es gibt hier viele Widersprüche. Aber was wäre, wenn wir diesen Haufen, der nicht länger Architektur ist, als Kunst oder als Ressource für zukünftige Kunstwerke bezeichnen würden? Könnte er auf dem Gelände bleiben, wenn wir die Kategorie ändern, durch die wir ihn wahrnehmen?” [Übers. d. Verf.]15


Diese Geste, die Realität durch Kunst zu verändern, eröffnet das Potenzial zur Pflege und Weiterentwicklung. Im künstlerischen Prozess ist Forschung ohne vorab festgelegtes Ergebnis akzeptabel, da Kunst im Gegensatz zur Architektur Prozesse und ästhetische Fragen priorisieren kann, statt vordefinierte Problemlösungen zu erfordern. An diesem Punkt liegt vielleicht die bedeutendste Divergenz zwischen Almarcegui und Shankland in der Art und Weise, wie sie ihre Forschung behandeln. Almarcegui konzentriert ihre Bemühungen darauf, Aufmerksamkeit und Bewusstsein für das Ausmaß der Bergbauindustrie zu schaffen und überlässt es dem Publikum, welche Maßnahmen ergriffen werden sollen. Im Gegensatz dazu führt Shankland Ideen zu Recycling, potenziellen Verwendungen und sozialem Engagement basierend auf seiner Forschung und den Materialien, mit denen er arbeitet, ein.

In der Ausstellung sind verschiedene Formen von recycelten Materialien zu entdecken. Beim Betreten der Ausstellung schafft eine textile Installation in verschiedenen Erdtönen eine verschwommene und mehrdeutige Landschaft. Das Kunstwerk stellt ein weiteres mögliches Ergebnis der Arbeit an der Schnittstelle von künstlerischer Praxis und technologischer Gestaltung dar. In Zusammenarbeit mit der Designerin und Wissenschaftlerin Anna Saint Pierre und mit Unterstützung von Étienne Vinet entwickelte Stefan Shankland die textile Installation durch einen Prozess des In-situ-Recyclings von Mineralabfällen, wobei Saint Pierres Technik zur Druckherstellung von Pigmenten aus Bauabfällen verwendet wurde. Weitere Werke wie Endlessly the Twentieth Century und Melencolite (beide 2024) spielen formal mit bestimmten ästhetischen Erwartungen an architektonische Materialien.

Über die Ausstellung hinaus schafft Shankland eines der permanenten Werke, die bis 2026 den Spreepark prägen werden. Sein Projekt STRATAPARK reagiert gleichermaßen auf die Landschaft und auf das gesammelte Abfallmaterial. Es wird aus 40 Objekten und zwei größeren Landschaftsskulpturen bestehen, die aus rund 100 Tonnen Abrissmaterial hergestellt und für funktionale Zwecke recycelt werden. Die Prototypen 1, 2 und 3 der zukünftigen Objekte sind vor dem Eingang zur Ausstellung platziert und verbinden diese mit dem Außen. 

Auf dem Außenstandort im Spreepark ist eine weitere Installation von Shankland zu sehen - das Ergebnis einer Zusammenarbeit mit dem Architekturkollektiv raumlaborberlin. Das RE.USE.UM ist eine Materialanordnung verschiedener Mineralien im öffentlichen Raum, die gleichzeitig als Arbeitsbereich für Workshops mit der lokalen Gemeinschaft dient. Diese praxisorientierten Bildungsworkshops sollen das von Shankland im Spreepark gesammelte Mineralabfallmaterial aufbereiten und wiederverwenden, wodurch eine Plattform für kritisches Engagement, soziale Verbindung und Austausch vor Ort entsteht. Innerhalb der Struktur, die während des Eröffnungsprogramms jederzeit zugänglich war, werden Momente der Empathie geschaffen. 

Angesichts der Tatsache, dass Shanklands Interventionen im Spreepark, einem sich im Wandel befindlichen Ort, stattfinden, ist  die Zusammenarbeit mit raumlaborberlin naheliegend. Sowohl das Kollektiv als auch Shankland teilen ein Interesse an forschungsbasiertem Design und prozessgetriebenen Langzeitprojekten. Ihre Interventionen umfassen oft den Austausch mit interdisziplinären Expert*innen sowie Stadtbewohner*innen und betonen die Initiierung von Prozessen und die Schaffung von Aktivierungspotenzialen, anstatt sich ausschließlich auf Problemlösungen zu konzentrieren. Sie etablieren eine tiefgreifende Verbindung zum Ort und erleichtern dessen Aktivierung durch die tägliche Nutzung. 

Über Jahre hinweg hat das Kollektiv raumlaborberlin eine beeindruckende Anzahl von Projekten realisiert, die auf der Grundlage von Verbindungen, gemeinsamen Interessen und geteilten Erfahrungen basieren. Das Projekt Floating University von 2018 ist ein gutes Beispiel für eine Praxis, die als transdisziplinäres Labor fungiert, Netzwerke aufbaut und Forschung zum städtischen Raum umsetzt. Floating University förderte experimentelle Ansätze, indem es pragmatisch, anwendbar, zugänglich und vor allem ortsspezifisch blieb. Im Rahmen des Modells von Floating University stellte raumlaborberlin die Frage: 

„Welche Werkzeuge benötigen wir, um in Zukunft gut und ressourcenschonend zu leben und zu arbeiten?”16


Auch wenn die Frage global gestellt wird, geht es bei der Arbeit von raumlaborberlin niemals um Megastrukturen, sondern um die Schaffung von „Mikro-Utopien.“ Die Ausstellung „Eine Frage des Materials“ kann als eine Mikro-Utopie betrachtet werden – als eine Antwort auf die Prozesse langsamer Gewalt, mit denen wir nicht nur an Bergbauorten, sondern auch als Folge im städtischen Bereich konfrontiert sind.

In seinem Buch Slow Violence and the Environmentalism of the Poor (2011) untersucht Robert Nixon die ungleiche Umweltbelastung von marginalisierten, verletzlichen und machtlosen Gemeinschaften, insbesondere im Globalen Süden. Was Nixon als „slow violence“ versteht, ist:

“Eine Gewalt, die allmählich und unsichtbar geschieht, eine Gewalt der verzögerten Zerstörung, die über Zeit und Raum verstreut ist, eine aufreibende Gewalt, die typischerweise überhaupt nicht als Gewalt angesehen wird.” [Übers. d. Verf.]17


In seiner Analyse hebt er das Problem der kurzen Aufmerksamkeitsspannen hervor, die unsere Wahrnehmung von Gewalt als unmittelbares und vorübergehendes Ereignis prägen. Gewalt neigt dazu, subjektiv als „explosiv und spektakulär im Raum“18 wahrgenommen zu werden, während die Katastrophen, mit denen wir konfrontiert sind, „geduldig ihre Verwüstung ausbreiten.“19

Almarcegui und Shankland erinnern uns daran, dass wir dieser Gewalt Aufmerksamkeit schenken sollten und, dass wir verpflichtet sind, mit allen unseren Sinnen aufmerksam und bewusst unsere Umgebung wahrzunehmen, um die Herausforderungen des Anthropozäns zu bewältigen. Wie der Anthropologe Tim Ingold weiter vorschlägt, ist die wechselseitige Beziehung zwischen Menschen und Umwelt eine Frage der Verkörperung und des performativen Prozesses des Verweilens: 

"Das bedeutet, dass wir, wenn wir auf der Welt leben, nicht auf sie einwirken oder ihr etwas antun; vielmehr bewegen wir uns mit ihr. Unsere Handlungen verändern nicht die Welt, sie sind ein wesentlicher Bestandteil der Transformation der Welt selbst." [Übers. d. Verf.]20 


In ihrer künstlerischen Praxis helfen Almarcegui und Shankland uns zu erkennen, was es ist, womit wir uns bewegen. In dieser Hinsicht sollte die Anpassung an die neuen Realitäten des Anthropozäns nicht als Verlust von etwas angesehen werden, sondern vielmehr als Gewinn neuer Einsichten und Stärkung der eigenen Position.

Die Autorin

Helene Romakin ist Kulturwissenschaftlerin und unabhängige Kuratorin. In ihrer Arbeit konzentriert sich Romakin auf Praktiken und Methoden künstlerischer Forschung, situativem Wissen und der Rolle von Fiktion im akademischen Schreiben. In 2023 schloss sie ihre Promotion mit dem Titel Narrating the Anthropocene in Art, Architecture, and Film in Works by Lara Almarcegui, Andrei Tarkovsky, and Peter Zumthor an der ETH Zürich erfolgreich ab.

Fußnoten

1 Im Original: „to change landscape from a noun to a verb“, in: Mitchell, W.J.T, Chicago/London 2022.
2 Vgl. Mitchell, W.J.T. “Imperial Landscape.” In Landscape and Power, hg. von W.J.T. Mitchell, 5–34. Chicago/London: The University of Chicago Press, 2002.
3 Tsing, Anna Lowenhaupt. Friction an Ethnography of Global Connection. Princeton, N.J: Princeton University Press, 2005, 1-2.
4 Paul Crutzen and Eugene Stoermer, “The Anthropocene,” Global Change Newsletter 41, no.1 (2000): 17–18. Andere Wissenschaftler:innen sehen den menschlichen Einfluss auf die Systeme der Erde bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. Für einen historischen Überblick über diese Arbeiten siehe Simon Lewis and Mark Andrew Maslin, “Defining the Anthropocene,” Nature 519, no. 7542 (2015): 171–80.
5 T. J. Demos, Against the Anthropocene: Visual Culture and Environment Today (Berlin: Sternberg Press, 2017), 54.
6 Vgl. Moore, Jason W., ed. Capitalocene or Anthropocene? Nature, History, and the Crisis of Capitalism. Oakland: PM Press, 2016.
7 “Extractivism identifies a political economy premised on the withdrawal of value without corresponding deposit: resources are removed from the Earth, profits from labor, and commodifiable data from plants, bodies, and information systems. Returned to their place is waste, toxicity, disease, exhaustion, and death.”, vgl. T. J. Demos, Emily Eliza Scott, and Subhankar Banerjee, "Extractivism," in The Routledge Companion to Contemporary Art, Visual Culture, and Climate Change, ed. Demos, Scott, and Banerjee (New York: Routledge, 2021), 11.
8 "What I seek to do is offer a vision of the island’s possible destruction through an exploration of its geological origins and future exploitation" vgl. Lara Almarcegui, “Rocks of Spitsbergen,” in Rocks of Spitsbergen (Oslo: KORO, 2014), 19.
9 Lara Almarcegui und Winfried Dallmann, “Earth Calculation,” in Lara Almarcegui. Béton, 32.
10 “A World Where Everyone Has A Decent Place To Live," Dallas Area Habitat for Humanity, aufgerufen 20. Juli 2023, dallasareahabitat.org/mission-vision/.
11 "When the space is empty, everything is possible there. These are places really for dreaming, for thinking, they are blank spots, which are places of freedom. They are really necessary", vgl. Nasher Sculpture Center, "Nasher XChange—Lara Almarcegui," Video, YouTube, 3. Februar, 2014, www.youtube.com/watch.
12 Philip Ursprung, "Partially Buried Woodshed," in Allan Kaprow, Robert Smithson, and the Limits to Art, trans. Fiona Elliott (Berkeley, CA: California University Press, 2013), Apple Books.
13 "He attempted to bring the ravaged landscape into his art. No longer looking for a primordial grandeur, for a startlingly beautiful landscape (…) Smithson immersed himself in the no longer useful fringes of the industrial world—abandoned rock quarries, tailings ponds, sludge heaps, idle tar pools, and retired oil rigs", vgl. Hobbs, Robert. “Smithson’s Unresolvable Dialectics.” In Robert Smithson: Sculpture, 19–30, 1981, 27.
14 Marga Bijvoet, Art as Inquiry: Toward New Collaborations between Art, Science, and Technology (New York: Peter Lang Publishing, 1997), 101.
15 "At Spreepark, we could potentially use mineral waste resulting from the park's construction as a resource for other construction purposes. However, normatively speaking, this is not allowed because it is classified as waste. Furthermore, we cannot even store it due to the area's protected status as a natural environment. As long as it stood as architecture, it was acceptable, even as a ruin. However, once it is dismantled, it becomes waste and cannot remain here. There are many contradictions here... But what if we were to designate this pile, no longer architecture, as art or as a resource for future artwork? Could it stay on site if we change the category through which we perceive it?" Stefan Shankland, Artist Talk with Lara Almarcegui, moderated by Helene Romakin, Spreepark Art Space, June 2024.
16 raumlabor, Webseite, aufgerufen 13. Januar 2022, https://raumlabor.net/floating-university-berlin-an-offshore-campus-for-cities-in-transformation/.
17 "a violence that occurs gradually and out of sight, a violence of delayed destruction that is dispersed across time and space, an attritional violence that is typically not viewed as violence at all.", vgl. Rob Nixon, Slow Violence and the Environmentalism of the Poor (Cambridge, MA: Harvard University Press, 2011), 3.
18 ebd.
19 ebd., 6.
20 "This means that in dwelling in the world, we do not act upon it, or do things to it; rather we move along with it. Our actions do not transform the world, they are part and parcel of the world’s transforming itself.", vgl. Ingold, Tim. The Perception of the Environment Essays on Livelihood, Dwelling and Skill. London: Routledge, 2000, 200.